Im Jahr 1915 veröffentlichte Franz Kafka den Text «Die Verwandlung». Damals wurde dieser Text als völlig neuartig angesehen und verschaffte Kafka hohes Ansehen in der Literaturszene. Auch heute gilt «Die Verwandlung» noch als einzigartiges Werk und ist einer der meistzitierten Deutschen Texten weltweit. Doch worin genau liegt der Unterschied zu früheren Metamorphose Geschichten? Als Grundlage für diesen Blogeintrag dient der Deutschunterricht am Gymnasium sowie eine Vorlesung zum Thema Kafkas Begabungen von Reiner Stach.
Der Ursprung der Metamorphose liegt in den antiken Mythen. In diesen ist die Metamorphose häufig eine Bestrafung der Götter für das Fehlverhalten eines Sterblichen. Auch verwandeln sich Gottheiten häufig selbst in Tierwesen, um sich vor den Menschen oder sich gegenseitig zu verbergen. Darin liegt auch der erste Unterschied zu «Die Verwandlung». Die Metamorphose in Mythen erfolgt immer aus einem klaren Grund oder zu einem bestimmten Zweck. Kafka erklärt die Ursache für Gregor Samsas Verwandlung jedoch nie und das muss er auch nicht. Der Grund ist in «Die Verwandlung» unwichtig. Während dieser in Mythen häufig zentral ist. Moralische Lehren wie «Tu das nicht, sonst wirst du verwandelt», sind besonders stark auf den Grund für die Metamorphose, das Fehlverhalten, fokussiert. Kafka beschreibt in «Die Verwandlung» eine Welt in der Metamorphose in ein Ungeziefer zwar verpönt, aber nicht unbekannt ist. Weder Gregor noch seine Familie hinterfragen, wieso Gregor zum Ungeziefer wurde. Als seine Familie ein grosses Insekt in Gregors Zimmer auffindet, ist ihnen sofort klar, dass es sich dabei um Gregor handeln muss. In dieser Welt geschieht das halt mal. Trotzdem ist Gregors Familie hilflos in dieser Situation. Sie versteckt ihn daraufhin in seinem Zimmer. Der zuvor gerufenen Doktor wird an der Haustür wieder abgewimmelt. Menschliche Mittel können dabei nicht helfen. Hier lassen sich Ähnlichkeiten zu antiken Mythen finden. Gottheiten sind dafür bekannt sich in Tiere zu verwandeln. Oft treten sie auch zuerst in einer verwandelten Form vor die Menschen, bevor sie ihre wahre Gestalt offenbaren. Daher ist man sich auch in der Welt der Mythen an Metamorphosen gewöhnt. Beeinflussen lassen sich diese durch menschliches Verhalten jedoch selten. Eine Verwandlung kann nur von Gottheiten rückgängig gemacht werden, Menschen hingegen haben keinerlei Macht darauf. Kafka beschreibt in «Die Verwandlung» nicht nur die physische Metamorphose in ein Ungeziefer, sondern auch die Veränderung von Gregors Verhalten und Menschlichkeit. Kurz vor seinem Tod stellt Gregor die Frage, ob wirklich er das Tier sei, wenn ihn als einziger die Musik der Schwester ergreift. Wenige Seiten später spricht ihm die Schwester diese Menschlichkeit ab: «Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloss: wir müssen versuchen es loszuwerden». Für uns Leser, die die Geschichte aus der Perspektive Gregors erfahren und all seine Gedanken miterleben, ist dies überraschend. In älteren Mythen ist die Frage, was mit dem Bewusstsein und der Menschlichkeit der verwandelten Person geschieht, unwichtig. So ist es zum Beispiel im Mythos der Arachne, die den Zorn der Athene erweckt und zur Spinne verwandelt wird. Von da an gilt Arachne als Spinne, dass sie womöglich noch ein menschliches Bewusstsein besitzt, ist völlig egal. Ähnliches geschieht in der Geschichte der Medusa von Ovid. Hierbei wird Medusa als junge hübsche Frau von Athene in das bekannte Ungeheuer mit Schlangenhaaren verwandelt. Später wird Medusa vom Heros Perseus enthauptet. Dieser wird hierbei von den Göttern unterstützt und im Nachhinein als Held gefeiert. Dieser Mythos ist besonders interessant, da Medusa im Gegensatz zu Arachne ein Teil ihrer menschlichen Gestalt behält. Trotzdem gilt der Tod der Medusa nicht als Mord, sondern als Erlegung eines Monsters. Sowie Arachne wird auch Medusa nach der Verwandlung als Tier oder Ungeheuer angesehen. So wie uns die Geschichten erzählt werden, geht Menschlichkeit mit der Verwandlung verloren.
Grundsätzlich liegt der Unterschied im Ziel der Texte. Antike Mythen waren dazu gedacht richtiges Verhalten zu vermitteln, Naturphänomene zu erklären und natürlich zu unterhalten. Kafkas «Die Verwandlung» hingegen hinterfragt die menschliche Identität, sowie das Konzept der Menschlichkeit. Die Metamorphose ist hierbei nicht nur ein Mittel der Geschichte, sondern der grosse Konflikt. Gregors Gedanken und Bewusstsein wird viel stärker thematisiert als es in antiken Mythen üblich war. Dies ist womöglich ein Resultat der psychologischen und literarischen Ideen des 18. Jahrhunderts, jedoch wahrscheinlich auch von Kafkas einzigartigem Genie.